Stellungnahme der DGLS zum Problem von LRS/Legasthenie

Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben e.V.
Sektion der International Reading Association (IRA)

Die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben verweist auf folgende Missstände in unserem Schulsystem:

  • Jährlich verlässt fast ein Viertel der Jugendlichen die Schule mit nur elementaren Kompetenzen im Lesen und in der Rechtschreibung und mit einer nur geringen Motivation, freiwillig zu einem Buch zu greifen. Jährlich scheitern Tausende von Kindern im Anfangsunterricht an der Aufgabe, lesen und schreiben zu lernen. Die Schule ist offenbar überfordert, Schüler und Schülerinnen wirksam in Bezugin bezug auf diese wichtige Schlüsselqualifikation zu fördern, deren Beherrschung ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben sichert.
  • Bis heute sind die Grundsätze der Kultusministerkonferenz zur Förderung von Kindern mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten nicht realisiert. Die KMK hat schon 1978, dann wieder 2003 gefordert, dass alle Kinder in der Schule ein Recht auf Förderung haben. Voraussetzung dafür sei ein guter Erstunterrichts im Lesen und Schreiben und die gründliche Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte in Bezug auf die Didaktik und Methodik des Erstlese- und Erstschreibunterrichts, die Diagnosefähigkeit, die Ableitung von Förderschwerpunkten und die Erarbeitung von Förderplänen.
  • Statt alle Kinder zu fördern und die Grundsätze der KMK zu realisieren, ist gegenwärtig zu beobachten, dass in den Bundesländen jeweils unterschiedliche Gruppen von Kindern definiert werden, die Anspruch auf besondere Förderung in der Schule haben. Nur diese jeweils landesspezifisch definierte Gruppe wird in den Genuss unterschiedlicher Fördermaßnahmen und Erleichterungen kommen, die sie vor den Auswirkungen der Selektionsmechanismen der deutschen Schule schützt. Zu befürchten ist, dass sich diese Tendenzen im Zuge der Föderalismusreform verstärken. Damit wird gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen.

Die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben verweist auf die Wichtigkeit der folgenden sechs Punkte:

  1. Auf den Anfang kommt es an!
  2. Zeit zum Lernen!
  3. Alle Kinder haben Anspruch auf Förderung!
  4. Verpflichtung auf den förderdiagnostischen Ansatz!
  5. Qualitätssicherung bei außerschulischen Förderangeboten!
  6. Schaffen günstiger Rahmenbedingungen für erfolgreiche Förderung!

1. Auf den Anfang kommt es an!

Die kritische Phase für das Entstehen von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten sind die Erfahrungen der Kinder mit Schrift in den ersten beiden Schuljahren. Der Anfangsunterricht muss den Lernvoraussetzungen der Kinder angepasst sein und Kindern die Funktion von Schrift als Kommunikationsmittel von Beginn an erfahrbar und einsichtig machen.

2. Zeit zum Lernen!

Der Erwerb der Schriftsprache ist ein langwieriger Lernprozess und stellt eine große Herausforderung für alle Kinder dar. Erst allmählich erwerben sie die Einsichten, die für die Aneignung des Lerngegenstands Schriftsprache erforderlich sind. Manche Kinder benötigen längere Zeit, um diese Denkentwicklung zu meistern. Dies kann unterschiedliche Gründe haben, wobei ein Wechselspiel zwischen individuellen, häuslichen und schulischen Faktoren zu berücksichtigen ist. Langsam lernende Kinder laufen Gefahr im Unterricht zurück zu bleiben, wenn die Lernangebote nicht ihrem schriftsprachlichen Entwicklungsstand entsprechen. Dadurch stellen sich beim Kind Misserfolgserlebnisse sowie Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls und der Gesamtpersönlichkeit ein, die in schwer wiegendenschwerwiegenden Fällen zur Lernblockade führen können.

3. Alle Kinder haben Anspruch auf Förderung!

Die Stärken und Schwierigkeiten der Leistungen aller Kinder müssen im Unterricht berücksichtigt werden. Es ist ethisch nicht vertretbar, Kinder mit Lese- Rechtschreibschwierigkeiten in solche, die „förderwürdig“ sind, und solche, die keinen Anspruch auf individuelle Förderung haben, einzuteilen.
Die DGLS hält es, wie auch die KMK, nicht für sinnvoll, aus der Gesamtgruppe der Kinder
mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten eine Teilgruppe von „Legasthenikern“ auszugliedern, die besondere Hilfsangebote erhalten sollen. Das Konstrukt Legasthenie beruht auf der Annahme, Lese-Rechtschreib-Versagen sei eine krankhafte Eigenschaft eines intelligenten Kindes, das eine Diskrepanz zwischen guter Intelligenz und schwachen Lese- Rechtschreibleistungen aufweist. Dieses Konstrukt ist theoretisch nicht sinnvoll, diagnostisch nicht hilfreich und therapeutisch nicht brauchbar.

4. Verpflichtung auf den förderdiagnostischen Ansatz!

Die Förderung aller Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten muss dem förderdiagnostischen Ansatz verpflichtet sein. Stufenmodelle des Schriftspracherwerbs und Analysen der kindlichen Zugriffsweisen geben Aufschluss, über welche Strategien Kinder verfügen und welche Hilfestellung/ Förderung sie brauchen, um die Hürden der Schriftsprache zu meistern.

a) Die Leistungsfeststellung muss Hinweise auf Förderung geben und folgende Fragen klären:

  • welche spezifischen Stärken und Schwierigkeiten hat das Kind im Lesen,Schreiben und in der Rechtschreibung?
  • über welche Lern- und Arbeitstechniken verfügt es?
  • welche Einstellungen zum Lernen und speziell welche Motivation zum Schriftspracherwerb weist es auf?
  • wie ist sein Selbstkonzept ausgeprägt?

b) Unterstützung und Förderung müssen dementsprechend in diesen Bereichen ansetzen und folgende Bausteine umfassen:

  • Motivation schaffen durch vielfältigen Gebrauch der Schriftsprache in sinnvollen und für das betreffende Kind bedeutsamen Situationen
  • Aufbau von Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit und Entwicklung eines positiven Selbstkonzepts
  • eine gezielte Förderung der Lese- und Rechtschreibleistungen aufgrund einer individuellen linguistischen Analyse der Fehler im Lesen und der Rechtschreibung, die Aufschluss über Stärken und Schwierigkeiten des Kindes geben
  • Vermittlung von Lernstrategien, Arbeitstechniken und Lesestrategien.

c) Das Erstellen von Förderplänen muss gesetzlich festgeschrieben und deren Umsetzung vor Ort kontrolliert werden.

5. Qualitätssicherung bei außerschulischen Förderangeboten!

Bei lang andauernden Schwierigkeiten, die sich nicht im Rahmen der Schule beheben lassen, müssen über das KJHG außerschulische einzeltherapeutische Hilfen finanziert werden, jedoch nur in Institutionen, die sich den hier beschriebenen Fördergrundsätzen verpflichtet fühlen. Das Einbeziehen von Lehrpersonen und von Eltern ist eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Förderarbeit.

6. Schaffen günstiger Rahmenbedingungen für erfolgreiche Förderung!

Erfolge in der Förderung von Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten sind dann möglich, wenn günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden:

  • Erweiterung der Unterrichtszeit, damit jedes Kind seinen Weg zur Schriftsprache finden kann
  • mehr Lehrerstunden, damit bei zeitweiliger Doppelbesetzung intensiver auf die unterschiedlichen Förderbedürfnisse und Schwierigkeiten der Kinder eingegangen werden kann
  • Heranziehen von Fachleuten mit besonderen Förderkompetenzen in Fragen des Schriftspracherwerbs sowie Ausbildung von Lehrkräften zu Beratungs- oder Förderlehrer/innen bei schulischen Lernproblemen
  • Verbesserung der Ausstattung der Schulen mit Bibliotheken und Computern
  • und schließlich eine verbesserte Lehreraus- und -fortbildung in Fragen des Schriftspracherwerbs.

Die Deutsche Gesellschaft für Lesen und Schreiben hat „Zehn Rechte des Kindes auf Lesen und Schreiben“ formuliert und darauf verwiesen, dass Kinder in unserer Gesellschaft nicht nur die Pflicht haben, Lesen und Schreiben zu lernen, sondern dass sie auch einen Anspruch haben, in der Schule mit allen zur Verfügung stehenden Kräften kompetent unterstützt zu werden. Vergleiche mit den erfolgreichen IGLU- und PISA – Ländern ergeben aber, dass die gesellschaftlichen und schulischen Rahmenbedingungen für die Förderung der Lesekompetenz in Deutschland nicht günstig sind.
Der Anteil der Kinder mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten in deutschen Schulen ließe sich erheblich senken, wenn die in den 10 Rechten angesprochenen Verbesserungen der Lernbedingungen realisiert würden.
Weitere Informationen und Stellungnahmen finden Sie auf der Netzseite der dgls, unter anderem eine Studie: Wie gut haben es Kinder und Jugendliche in Deutschland bei der Verwirklichung ihrer Rechte auf Bildung?

www.dgls.de